Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 231

Die Vorausbestimmung des Geschlechts bei der Erzeugung vom Standpunkte der occulten Wissenschaft (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 231

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HARTMANN: VORAUSBESTIMMUNG DES GESCHLECHTS BEI DER ERZEUGUNG.

und anderen Mystikern beschrieben. Nach
diesen Lehren beruht alle Entstehung von
Formen; nicht nur die Erzeugung von
Kindern, sondern sogar die Schöpfung von
Welten auf der Macht des Willens und
der Vorstellung, oder, wie es Paracelsus
nennt, der formenbildenden Kraft der
Imagination, welche sowohl bewusst als
auch unbewusst arbeiten kann, und damit
stimmen auch alle hervorragenden Philo-
sophen überein.

Ehe wir jedoch diesen Punkt weiter
besprechen, wird es gut sein, unser Augen-
merk darauf zu richten, was eigentlich
bei der menschlichen Zeugung geschieht.
Sicherlich wird dabei kein neues geistiges
Wesen geschaffen, sondern nur eine
menschliche Form erzeugt, in welcher ein
bereits vorhandener Geist seine Wohnung
nimmt. Um aber dies zu begreifen, hiezu
ist eine Kenntnis der Lehre von der »Re-
incarnation« oder Wiederverkörperung der
menschlichen Individualität nöthig, und
das Verständnis dieser setzt wieder eine
Kenntnis der seelischen und geistigen Con-
stitution voraus. Auf eine Auseinander-
setzung dieser Lehren einzugehen, ver-
bietet uns der uns zugemessene Raum,
und es sind diese Lehren auch bereits
früher in diesen Blättern besprochen
worden, so dass eine kurze Übersicht über
die dabei stattfindenden Vorgänge für
unsere heutigen Zwecke genügt.

Betrachten wir zuerst die Auflösung
der menschlichen Natur, so wird uns deren
Wiedererneuerung umso leichter ver-
ständlich sein. In unserem jetzigen Leben
sind Geist, »Seele«, d. h. das individuelle
Ich, Gemüth oder Charakter (worin ent-
weder das männliche oder weibliche Princip
vorherrschen kann), Astralleib und physischer
Körper zu einem Ganzen verbunden. Beim
Tode fällt der physische Körper ab. Dann
ist die Seele mit dem Astralleib (Karma
rupa
) bekleidet; aber auch dieser ver-
schwindet beim zweiten Tode und seine
Elemente bleiben auf der Astral-Ebene
zurück. Die Seele geht nun mit ihrem
Gedankenleibe (Majavi rupa) in die
dafür geeignete Welt (Devachan) ein,
und wohnt dort solange, bis auch dort ihre

Zeit zu Ende ist und der sich dann in
ihr instinctiv regende Wunsch nach neuem
persönlichen Dasein sie wieder auf den
Weg der Wiederverkörperung führt. Dann
sinkt sie wieder zum materiellen Dasein
herab, nimmt auf diesem Wege die auf der
Astral-Ebene zurückgelassenen »Kleider«,
d. h. die ihrer menschlichen Natur an-
gehörigen und im vorhergehenden Leben
erworbenen Talente, Neigungen, Be-
gierden u. s. w. wieder auf und incarniert
sich wieder in einem Körper, dessen Daseins-
bedingungen ihrem Karma entsprechen.

Für alles dies bedarf derjenige, welcher
die Gabe des geistigen Schauens besitzt,
keiner weiteren Beweise; aber auch für
diejenigen, welche diese Gabe nicht besitzen,
bietet die alltägliche Beobachtung hin-
längliche Beweise für die Wahrheit dieser
Theorie. Niemand kann ein Talent, eine
Begabung, ein Laster u. s. w. mit auf die
Welt bringen, wenn er es nicht vorher
schon besessen hat. Folglich muss er es
schon vorher erworben und vorher existiert
haben. Es mangelt nicht an Beispielen
von sogenannten Wunderkindern, welche
die erstaunlichsten Talente mit sich auf
die Welt brachten, und an andern mit
angeborenen Lastern, die sich schon im
frühesten Kindesalter entwickelten. Es gibt
geborene Heilige in Familien, die keines-
wegs heilig sind, und geborene Verbrecher
und Teufel, deren Eltern ehrbar und
anständig sind.* Die der menschlichen
Seele innewohnenden und in einem
früheren Leben erworbenen Eigenschaften,
Neigungen u. s. w. werden in der buddhi-
stischen Philosophie mit dem Namen
»Skandhas« und in der christlichen
Bibel als das »Fleisch« bezeichnet. Bei
der Wiederverkörperung findet ein »Wieder-
zusammentreten der Skandhas« oder mit
anderen Worten eine »Auferstehung des
Fleisches« statt. Aus alledem geht hervor,
dass eine Zeugung überhaupt nicht statt-
finden kann, wenn dabei keine nach
Wiederverkörperung strebende Seele vor-
handen ist, und dies ist eine der Ursachen
der Unfruchtbarkeit, von der die medi-
cinische Wissenschaft nichts weiß; denn
wenn auch fortwährend Millionen von

* Eine Menge von Beispielen sind in Lombroso e Ferraro: »La Donna Delinquente«
(Turino-Roma, 1893) zu finden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 231, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0231.html)