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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 234

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SEILING: CHRISTEN UND »HEIDEN«.

gegen, dass der Entwicklungsweg des
Christenthums im Gegensatz zu dem des
Buddhismus mit Blut und Greueln aller
Art befleckt ist. Freilich ist diese Er-
scheinung theilweise auf die große Ver-
schiedenheit des Charakters des Europäers
einerseits und des Inders und Ostasiaten
andererseits zurückzuführen; in der Haupt-
sache beruht sie indessen, wie ich weiter
unten zeigen will, auf der dogmati-
schen Verschiedenheit der beiden Reli-
gionen. Der Wirkungslosigkeit der christ-
lichen Moral ist es denn auch zuzuschreiben,
dass unsere hoch gepriesene Cultur fast
nur auf Legalität, nicht aber auf Moralität
aufgebaut ist. Könnte Polizei und öffent-
liche Meinung plötzlich außer Wirksamkeit
gesetzt werden, dann wäre dem schlimm-
sten Bestialismus Thür und Thor geöffnet;
denn leider muss Shakespeares Wort:
»Von Liebe nichts in all den süßen
Schuften« gar sehr verallgemeinert werden.
Zu einer vollständigen Aufzählung der
verschiedenen Arten christlicher Lieblosig-
keit würde der einem Aufsatz gesteckte
Raum nicht hinreichen. Ich möchte jedoch
wenigstens auf einen, weil höchst origi-
nellen, neuerdings vorgekommenen Fall
von Unduldsamkeit besonders hinweisen:
auf die gegenseitige Beohrfeigung von
Pilgern in der Peterskirche zu Rom.

Aber auch bei aller scheinbaren Mora-
lität zeigen die christlichen Culturstaaten
Blößen, über welche man erschrecken
muss, wenn man nur einen Augenblick
darüber nachdenkt, was das christliche
Gebot von der Nächstenliebe eigentlich
in sich schließen sollte. Trotz dieses
Gebotes muss der ewige Friede in das
Reich der Utopien verwiesen werden, und
trotz dieses Gebotes sind wir bekanntlich
noch weit davon entfernt, allen Menschen
das Recht auf das Dasein zu verbürgen,
geschweige denn auf ein menschenwür-
diges Dasein, wie es zur Zeit nur von
einer kleinen Minderzahl geführt wird.
Nebenbei bemerkt: die Ansicht, dass es
stets Reiche und Arme geben müsse, oder,
wie man sich jetzt auch auszudrücken
beliebt, dass der Kampf ums Dasein nie

ein Ende nehmen könne, ist heutzutage
nur eine gedankenlose Redensart. Denn
nachdem der Mensch die Naturkräfte sich
in großartiger Weise dienstbar gemacht
und unzählige Hilfsmittel der Production
ersonnen hat, ist der wirtschaftliche »Kampf
ums Dasein«, bei welchem übrigens gar
keine Analogie mit der Entwicklungslehre
besteht, nichts weniger als eine Natur-
nothwendigkeit, sondern lediglich die Folge
einer schreienden und ganz specifisch un-
christlichen Ungerechtigkeit. Sehr bezeich-
nend ist es auch, dass die kriegführenden,
machthabenden und im Fette schwimmen-
den Schein-Christen sich bekreuzigen, wenn
das Wort »Socialdemokratie« auch nur
ausgesprochen wird, während ein echter
Christ unbedingt Socialdemokrat sein
müsste. Uns hierüber zu belehren, hat
Pfarrer a. D. Göhre — ein weißer Rabe —
den seltenen Muth gehabt und die nöthi-
gen Erklärungen in der »Zukunft« vom
26. Mai d. J. abgegeben.

In dogmatischer Hinsicht ist
es nicht ganz leicht, Christenthum und
Buddhismus mit einander zu vergleichen,
weil es nicht unzweifelhaft feststeht, was
Jesus eigentlich gelehrt hat. Wohnt der
Gott Jesu, der »Vater«, wie er ihn nannte,
in jedes Menschen eigener Brust*; handelt
es sich nur darum, der höheren, göttlichen
Natur zum vollständigen Durchbruch zu
verhelfen, um durch diese Wiedergeburt
das »inwendig in uns liegende«
Himmelreich zu gewinnen, mit dem uns
»alles gegeben« ist, dann wäre dies aller-
dings eine Lehre, der nichts Besseres,
auch nicht von Seite des Buddhismus,
entgegengehalten werden könnte. Eine
derartige, nur ganz sporadisch vorkom-
mende Auffassung vom Wesen Gottes gilt
aber, und zwar nicht nur beim gasammten
confessionellen Christenthum, als sehr un-
christlich, wie sie denn auch Goethe, der
von einem »außerhalb der Welt erhaben
thronenden« Gott nichts wissen wollte,
bezeichnenderweise den Namen des »großen
Heiden« eingetragen hat.

Der buddhistischen Lehre wird von
besonnenen Forschern, da sie eben mit

* Ich und der Vater sind Eins (Joh. 10, 30). — Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige
uns den Vater, so genüget uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du
kennst mich nicht? Philippe, wer mich sieht, der siehet den Vater. Wie sprichst du denn:
Zeige uns den Vater? (Joh. 14, 8, 9.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 234, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0234.html)