Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 235

Text

SEILING: CHRISTEN UND »HEIDEN«.

dem besten Willen keinen andern Mangel
an ihr entdecken können, nur der eine
Vorwurf gemacht, dass sie den Glauben
an Gott nicht kennt. L. v. Schröder, der
bekannte Kenner der orientalischen Reli-
gionen, hat übrigens diesen Vorwurf ein-
mal* in die befremdenden Worte gekleidet:
Buddha und seiner Lehre könne und
müsse »das eine große und schwere Un-
recht zur Last gelegt werden, dass sie
vom Glauben an einen Gott, vom Gebet,
von der Verehrung Gottes absehen«. Ich
kann sehr wohl begreifen, dass man bei
einer entsprechenden Vorstellung von Gott
dem Buddhismus einen Mangel nach
dieser Seite hin vorwerfen kann; aber ein
Unrecht? Dies würde ja voraussetzen,
dass Buddha den Christen-, resp. Juden-
gott Jehovah genau gekannt, dass er aber
dessen Existenz und Bedeutung seinen
Jüngern absichtlich verheimlicht hat.
Nein, Buddha war vielmehr über die Ent-
stehung der Welt nicht so genau unter-
richtet wie die Verfasser der »Juden-
Mythologie« (Schopenhauers gelegentliche
Bezeichnung für das Alte Testament), und
hat deshalb die Beantwortung aller eigent-
lich metaphysischen Fragen abgelehnt und
diese — was sehr weise war — dem Volk
überhaupt auszureden gesucht.

Kann nun aber der dem Buddhismus
fehlende Glaube an den christlichen Gott
gewöhnlicher Auffassung und an die damit
verknüpften Lehren selbst nur als ein
Mangel bezeichnet werden? Man besinne
sich doch, was es sagen will: dass es
einen persönlichen Gott gibt, der gleich-
zeitig aus drei Personen besteht; dass
dieser Gott die Welt und den Menschen
aus Nichts erschaffen hat; dass der
geschaffene Mensch einen freien
Willen hat; dass der Mensch, da seine
Seele unsterblich, ein Wesen von halber
Ewigkeit ist; dass Gott trotz seiner All-
macht, Allwissenheit und Allgüte den
ersten Sündenfall und damit die Verschul-
dung des ganzen Menschengeschlechts
zulässt; dass zur Sühnung der Schuld
Gott selbst sich für die Menschheit opfert,
also der Gläubiger für den Schuld-
ner; dass aber trotzdem die große Mehr-
zahl ewiger Qual und Verdammnis an-

heimfällt; dass also die Allgüte Gottes
Grausamkeit und Rache nicht ausschließt,
während vom Menschen sogar die Feindes-
liebe verlangt wird; dass die Bestimmung
des Menschen in der Ewigkeit — ob
Himmel oder Hölle — an einen ein-
zigen, von allerhand Zufälligkeiten ab-
hängigen und oft nur allzu kurzen Lebens-
lauf gebunden ist; dass übrigens die
wenigen Auserwählten nach der empören-
den Lehre von der Gnadenwahl schon
vorherbestimmt sind; dass das ent-
setzliche Elend dieser Welt weder an der
Allmacht, noch an der Allgüte Gottes irre-
machen darf Wer diese bitteren
Pillen ohne Murren schlucken kann, der
hat auf alles Denken verzichtet und lebt
überdies in der zuversichtlichen Hoffnung,
dass er zu den wenigen Auserwählten
gehören wird. Dass diese beiden Bedin-
gungen leichter erfüllt werden, als man
zur Ehre des Menschengeschlechts gerne
annehmen möchte, beweisen die That-
sachen. Denn, wenn der gewöhnliche
Christ nur ein klein wenig denken und
sich der so sehr strengen Forderungen
Christi erinnern wollte, müsste er unter
äußerster Aufopferung unablässig an seinem
ewigen Heile arbeiten und sich ganz anders
verhalten, als er es in Wirklichkeit thut.
Mit Bezug hierauf muss man Nietzsche
zustimmen, wenn er sagt: »Vorausgesetzt,
dass überhaupt geglaubt wird, so ist der
Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein
Mensch, der wirklich nicht bis Drei zählen
kann, und der übrigens, gerade wegen
seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit,
es nicht verdiente, so hart bestraft zu wer-
den, als das Christenthum ihm verheißt.«

Sogar ein Luther konnte angesichts
der Zumuthungen, welche der christliche
Gottesglaube stellt, nicht umhin, in seinen
Tischreden zu sagen: »Wiewohl keine
Religion närrischer scheinet, denn der
Christen, doch gläube ich an den Gott.«
Luther sagte also mit Tertullian: Credo,
quia absurdum est! Was soll nun aber
die christliche Dogmatik Dem, der von
seiner nun doch einmal vorhandenen Ver-
nunft einen, wenn auch nur bescheidenen
Gebrauch machen möchte, oder der es
in richtiger Erkenntnis seiner Schwächen

* Zeitschrift »Der Thürmer«, 1898 October-Heft.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 235, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0235.html)