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Richter fordern, wäre es nöthig, unsere
Ideen zu klären, denn dieser Richter wird
an den Mängeln dieser Ideen theilhaben.
Bevor wir uns über die Gleichgiltigkeit
der Natur beschweren und eine Billigkeit
in ihr suchen, die sie nicht kennt, wäre
es rathsam, aus unseren irdischen Reli-
gionen alle Ungerechtigkeiten auszu-
merzen; und wenn diese Ungerechtigkeiten
abgestellt sind, wird es sich finden, dass
das Feld, welches den Ungerechtigkeiten
des Zufalls eingeräumt war, wahrscheinlich
um zwei Drittel kleiner geworden ist, und
jedenfalls kleiner, als wenn wir den Sturm
vernünftig, den Vulcan besonnen, die
Lawine vorsichtig, Frost und Kälte um-
sichtig, die Krankheit urtheilsfähig und
das Meer sinnbegabt und wachsam über
unsere Tugenden und geheimen Absichten
gemacht hätten. Es gibt in der That bei
weitem mehr Arme, als Schiffbrüchige und
Opfer äußerer Unglücksfälle — und viel mehr
Krankheiten infolge von Armut, als in-
folge der Launen unseres Organismus oder
der Feindseligkeit der Elemente.
VIII.
Trotzdem lieben wir die Gerechtigkeit.
Wir leben sicherlich im Schoße einer großen
Ungerechtigkeit, aber man muss uns zu-
gute halten, dass wir die Gewissheit da-
rüber noch nicht lange haben und erst
Mittel und Wege suchen, um sie abzu-
stellen. Sie war so alt, die Gottes- und
Schicksalsidee, die Vorstellung von geheim-
nisvollen Absichten der Natur war so eng
mit ihr verknüpft, sie steht noch in so innigem
Zusammenhang mit den meisten schädlichen
Kräften des Weltalls, dass wir erst seit
gestern und ehegestern versuchen, die rein
menschlichen Kräfte darin zu isolieren.
Und wenn es uns gelingt, sie zu isolieren,
wiederzuerkennen und ein- für allemal von
den anderen zu trennen, auf die wir keinen
Einfluss haben, so wird das für die Ge-
rechtigkeit von größerem Belange sein, als
alles, was die Menschheit in ihrem Trachten
nach Gerechtigkeit bisher gefunden hat.
Denn es ist nicht der menschliche Antheil
an der socialen Ungerechtigkeit, der unser
leidenschaftliches Streben nach Billigkeit
zu entwaffnen imstande ist, sondern der
Antheil, den eine große Menge Menschen
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noch immer Gott, einer Art von Ver-
hängnis und gewissen angeblichen Natur-
gesetzen zuerkennt.
IX.
Dieser passive Antheil nimmt freilich
von Tag zu Tag ab. Nicht als ob das
Mysterium der Gerechtigkeit im Ver-
schwinden wäre — keineswegs! Es ist sehr
selten, dass ein Mysterium verschwindet,
gewöhnlich wechselt es nur den Ort.
Aber es ist oft sehr wichtig und zu wün-
schen, dass es gelinge, das Mysterium zum
Ortswechsel zu veranlassen. In gewisser
Hinsicht beruht der ganze Fortschritt des
menschlichen Denkens auf zwei oder drei
Ortswechseln dieser Art, darauf, dass man
zwei oder drei Mysterien von einem Ort,
wo sie Schaden stifteten, nach einem
anderen Ort versetzte, wo sie unschädlich
wurden und Gutes thun konnten. Bisweilen
braucht das Mysterium nicht einmal den
Ort zu wechseln: genug, wenn es uns gelingt,
ihm einen anderen Namen zu geben. Was
man früher »die Götter« nannte, heißt
heute »das Leben«. Und wenn das Leben
ebenso unerklärlich ist, wie die Götter,
so haben wir wenigstens den Vortheil
errungen, dass niemand mehr das Recht
hat, in seinem Namen zu sprechen oder
Schaden zu stiften. Es ist höchst wahr-
scheinlich nicht das Endziel des mensch-
lichen Denkens, das Mysterium zu zer-
stören oder zu verringern. Es ist dies an-
scheinend auch gar nicht möglich. Man kann
glauben, dass das Mysterium dieser Welt
stets das gleiche bleiben wird, vorausge-
setzt, dass das Wesen dieser Welt —
wie des Mysteriums — die Unendlich-
keit ist. Aber dem wahrhaft mensch-
lichen Denken liegt vor allem daran,
die Lage der wirklichen und nicht zu
enträthselnden Mysterien festzustellen. Es
soll ihnen alles genommen werden, was
nicht zu ihnen gehört, alles, was keinen
Theil daran hat, alles, was unsere Irrthümer,
Befürchtungen und Lügen hinzugedichtet
haben. Und in dem Maße, wie die künst-
lichen Mysterien fallen, sieht man den
Ocean des wirklichen Mysteriums sich er-
weitern: und dieses ist das Mysterium des
Lebens, seines Zweckes und Ursprungs, das
Mysterium des Gedankens, das Mysterium,
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