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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 298

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LINDNER: ÄSTHETIK DER GASSE.

sich ihres Instincts für schmückende Effecte
nie laut genug rühmen konnte. Vor allem
aber, weil es durchaus unzeitgemäß ist. Es
ist unzeitgemäß, denn es entspricht in keiner
Hinsicht dem modernen Gesammtstil unserer
Großstädte; es ist unvereinbar mit der archi-
tektonischen und ornamentalen Structur
ihrer Zinskasernen und Staatsgebäude, un-
vereinbar mit der Ökonomie ihrer breiten,
geradlinigen Geschäftsstraßen, unvereinbar
mit den Façaden ihrer weitausladenden
Schaufenster und Warenhäuser, unverein-
bar mit dem Lack-, Glas- und Lettern-
Mosaik ihrer Firmentafeln, Laternen und
Schilder, die ganze Fronten in einer selt-
samen Art verwüsten, unvereinbar endlich
mit der gesammten Organisation des ver-
kehrstechnischen Massenbetriebs, der die
Eingliederung der Gassen, Bauten und
Plätze mit der Gewalt geheimer Gesetze sich
zu Willen zwingt, den Spielschachtel-Stil
früherer Epochen bis auf den letzten Rest
wegfegt und der Total-Anlage des Weich-
bildes eine durchaus neuartige, nüchterne,
unverrückbare Physiognomie gibt.

Wird nun inmitten solch eines be-
sonderen Milieus, das heute jeder Groß-
stadt einen eigenthümlich zerklüfteten Stil
gibt, der Sinn für Feierlichkeit rege,
macht sich (aus einem schönen Impulse
der Bevölkerung heraus oder auf den
einladenden Wink eines Einzelnen) der
Plan einer solennen, sagen wir: patrio-
tischen Kundgebung geltend — dann
sollte sich doch vor allem die Frage an
die zeitgenössischen Künstler ergeben: ob
bereits moderne Formen zur fest-
lichen Bethätigung des beifälligen Triebs
gefunden sind, zeitgemäße Formen, die
zu den architektonischen und ornamentalen
Hintergründen der großstädtischen Um-
gebung in keinerlei Gegensatz stehen,
vielmehr durch einen innerlich verwandten
Charakter gefördert werden und durch
stilvolle Einheitlichkeit den Eindruck
wecken, als wachse die Freude wirklich
aus den Häusern hervor und grüßend dem
Gefeierten entgegen Dass solcher Ein-
druck (der schönste wohl, den eine Straßen-
Decoration bezwecken kann, denn in ihm
liegt der tiefere Sinn jeder schmückenden

Kundgebung) auch thatsächlich geweckt
werde, ist insbesondere eine sinnliche
Harmonie des Stils erforderlich, die in
den Geist der Stadt-Architektur, in die
Gesetze ihrer ornamentalen Bildungen
lebendig eingreift und die gegebenen
Motive* organisch weiterentwickelt, statt
mit feindlichem Putz und todtem Flitter
die Oberflächen und Fronten brutal zu
vernageln.

Denn dies steht fest, wenn es auch
nur den Wenigsten bewusst wird: mit dem
typischen »Festschmuck« der Schützen-
und Sangesbrüderschaften ist heute nichts
mehr auszurichten! Mit Buntflaggen,
Wimpeln, Bandschleifen und Nanking-
Fahnen, mit Guirlanden, Zapfen, Festons
und Draperien, mit Mastbäumen, Kiosken,
Blechvasen und Blei-Girandols, mit Papier-
kronen, Riesen-Monogrammen, cachierten
Reichsadlern und den entsetzlichen Wachs-
oder Leinwandblumen etc. lässt sich heute
keinerlei Jubel, keinerlei Feierstimmung
machen. Das wirkt im Gegentheil nur
noch wie triste Albernheit und hilflose
Barbarei, gibt lediglich einen kreischenden
Papagei-Ton von sich und ist allenfalls
noch gut genug, den Schah von Persien oder
seine Großmutter in mitteleuropäischen
Bahnhofs-Hallen mit Anstand zu begrüßen.
Wie unsäglich betrübend sind beispiels-
weise auch die loyalen Öldrucke und
Transparente, die zwischen Blattpflanzen
und Paraffin-Lämpchen in den Auslagen para-
dieren. Was soll man ferner zu den abgetre-
tenen und staubigen Gebrauchs-Teppichen
sagen, die wohl noch tagsvorher unter
den Betten der Mieter zu finden waren,
nun aber (welch widerliche Unsitte!) aus
Monumentalbauten (Ferstel, Hansen,
Fischer v. Erlach!) und Zins-Palästen
über die Fensterbrüstungen heraushängen.
Und welchen Geschmack soll man den
allerhöchsten Bildnissen abgewinnen, die
hier in Pflaumenmus, Sauerteig oder
Chocolade, dort in Schweinefett und
Wurstfleisch, drüben in Schmierseife ge-
presst wurden und nun mit Lichtlein und
Glühbirnen gar kunstvoll bespickt sind?
Dieser bildnerische Kannibalismus, den die
Mpwapwas oder Somali ihrem Häuptling

* Firstkämme, Friese, Pilaster, Balustraden, Bogen, Nischen, Gesimse, Pfosten, Giebel-
flächen, Fenster, Mansarden, Architrave, Loggien, Terrassen, Portale, Arcaden, Rankenwerke,
Quaderungen etc. etc.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 298, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0298.html)