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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 299

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LINDNER: ÄSTHETIK DER GASSE.

gegenüber nie riskiert hätten, soll industriöse
Findigkeit nebst bester Gesinnung beweisen.
Deutschen Krämern und Stadtvätern macht
solche Sulz-Sculptur Vergnügen. Ein
Beweis mehr, wie sehr das stoffliche
Interesse unter dem Einflusse unserer
Ästheten hinter dem künstlerischen zu
schwinden beginnt

Aber wie dem auch sei — man wird
sich künftighin in den Großstädten, so
oft der festliche Sinn erwachen sollte,
von jedem buntscheckigen Wimpel- und
Windel-Cultus zu emancipieren haben.
Einst, in den Zeiten der kleinen Innungen,
als festliche Äußerung einer verwandten
Cultur, war er ästhetisch berechtigt:
inmitten der winkelig-geschlängelten,
buckeligen Gässchen, inmitten der Stadt-
wälle, Zinnen, Erker und Gräben, inmitten
der Kaufhallen, Zunfthäuser und malerischen
Fachwerke. Selbst noch in den Anfängen
des letzten Jahrhunderts, unter der Nach-
wirkung des Vater Jahn’schen oder des
alldeutschen Befreiungstrubels, konnte er
füglich geduldet und jenseits der öster-
reichischen Grenzpfähle sogar noch in
den Siebzigerjahren entschuldigt werden,
da er im Einklang mit dem Sedan-Rausch
den Kriegervereinen, Burschenschaften und
Turnern ein Bedürfnis schien. Inzwischen
hat aber der größte Theil jener Deutschen,
die gesündere Kunst-Instincte als Muskeln
haben und in der Bauchwelle nicht das
α und ω seelischer Erziehung sehen, unter
dem Einflusse des Auslands diese Kirmess-
Ästhetik überwunden. In der Malerei und
Plastik ward der Anfang gemacht, in der
Neugestaltung des Kunstgewerbes, der
Architektur und namentlich des Intérieur-
Geschmacks wurde die Überwindung
fortgesetzt. Wenn diese Kirmess-Ästhetik
aber auch heute noch in den Gassen der
Großstädte triumphiert, wenn sie im
Vorjahre zu Frankfurt selbst einen Goethe
mit Lampions und Standarten wie einen
Schützenkönig bejubelte, und wenn sie in
diesem Jahre zu Berlin und zu Wien Groß-
jährigkeits-Erklärungen, Fürstenbesuche,
siebzigste Geburtstage etc. neuerdings
mit Tragant und geleimter Leinwand
feierte, so kommt das wohl nur daher,

weil der Wunsch nach einer zeitgemäßen,
modern-artistischen Gassendecora-
tion
noch unter der Schwelle des Gesammt-
Bewusstseins schlummert, und weil im
übrigen die Borniertheit der Stadtbonzen
und staatlichen Kunst-Departements jeden
Spürsinn, jeden Muth zur Initiative missen
lässt.

Modern-decorative Stilweisen, in denen
der festliche Sinn einer Gemeinschaft
(sei sie nun Stadt, Verein oder
Kirche) * zeitgemäß in Erscheinung treten
könnte, ohne dass der Decorations-Ballast
einer abgestorbenen Epoche mobilisiert
werden müsste, sind vorderhand, scheint
es, weder erdacht noch geschaffen worden.
Sie lassen sich überhaupt nicht theoretisch
erklügeln, dürften vielmehr — lehrt die
Stilkunde — scheinbar mit einemmale
als eine Art Formen- und Farbensprache
ihrer Zeit, mit der sie tausendfältig ver-
knüpft sind, der Intuition Bevorzugter
offenbar werden. Und sind sie erst einmal
künstlerisch eingefangen, dann wird man
sie auch als structives Bedürfnis, als
notwendigen Ausdruck des Zeitempfindens
allgemein bewundern. Ungeheuerlich ist
nur, dass man bis heute nicht einmal
den Versuch gemacht hat, ihnen praktisch
auf die Spur zu kommen.

Soviel ist klar: Die Künstler werden
auf die Gasse müssen
. Nicht nur die
Architektur und Sculptur wird sie, wie
bislang, hinauslocken. Wohl aber der uni-
versale Trieb: schmückende Elemente in
das Einerlei des abendländischen Straßen-
treibens auszustreuen; den Sinn für Fest-
lichkeit, wie ehedem in den erlauchten
Zeiten der Renaissance, aufs neue zu be-
leben; also beispielsweise die Pflasterung,
die Umzäunung, die Canalisierung, die
Anlage parkartiger Culturen, das Arrange-
ment der Beleuchtungsbogen und sonstigen
Lichtquellen als künstlerische Aufgaben
zu behandeln und namentlich auch den Auf-
bau »zweckloser« Zierwerke zu betreiben,
die lediglich Form- und Farbenquellen
im Dienste einer sinnlichen Heiterkeit
wären. Es muss sich auch inmitten des
Volkes und seines modernen Tempels —
der Gasse — praktisch irgendwie äußern,

* Hier käme es auch auf eine künstlerische Gestaltung der Processionen und sonstigen
Umzüge an. Vgl. Makart.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 299, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0299.html)