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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 311

Text

KASSNER: DIE ETHIK DER GOBELINS.

Dieser Mensch kennt noch keine Stimmungen,
er theilt sich noch nicht in Erinnerungen
und Hoffnungen, die leer sind, er ist
immer gegenwärtig. Er trägt alles an
sich, mit seinem Kleide scheint er geboren
zu sein, mit ihm wird er sterben. Er ist
nie nackt gewesen, es sei denn, dass er
ein Märtyrer aus der Heidenzeit ist, und
dann ist seine Nacktheit auch nur ein
anderes Kleid. Das Kleid ist ihm wie sein
Leben gegeben worden, er trat ins Leben
wie ein Jüngling in einen geistlichen
Orden. Ihm fehlt der Hintergrund, das
heißt, er darf nichts als Hintergrund
acceptieren, er darf nichts vergessen. Die
Natur ist ihm niemals Hintergrund, sie ist
immer neben ihm, ein Bild neben dem
andern. Er ist Symbol, noch Symbol. Man
kann sagen, alles, dem der Hintergrund
fehlt, ist Symbol. Je mehr der Mensch
von seinem Hintergrunde in sich auf-
nimmt, desto mehr entwickelt er sich zum
Symbol. Er ist aber nicht, wie der Mensch
auf den Bildern Burne-Jones’, Symbol
seines eigenen Schicksals; er ist Symbol
des großen, alles beherrschenden göttlichen
Willens, in den sich alle theilen. Er ist
noch Symbol, wie ich sagte; der müde
Mensch Burne-Jones’ ist schon Symbol.
Ein Symbol ist ein Licht, das keine
Schatten wirft, ein byzantinisches Mosaik,
wenn man will, es ist ewige Gegenwart,
und nur darum, weil man weiß, dass alles
Wirkliche vergeht.

Wer oberflächlich diese Bilder sieht,
wird mit Recht sagen, sie seien einförmig.
Und doch kann er es jeden Tag beob-
achten, dass, wenn man zehn Menschen
gleich kleidet und sie alle dasselbe
thun lässt, jeder eine eigene Physio-
gnomie bekommt, ja gerade dann,
wenn der eine oder andere auf der
Straße wie seine tausend Nächsten aus-
sieht. Es ist das ein Erfahrungsgesetz,
das Leben und Kunst gleich beherrscht,
ein Culturgesetz und Costümgesetz, das
Rubens zum Beispiel gar nicht ver-
stand, das Leonardo da Vinci und
Goethe entbehren konnten, weil sie
Menschen darstellten, die sich selbst be-
stimmen — das aber alles Geistige in den
Prinzessinnenbildern des Velasquez und
in Holbeins Anna von Cleve deutet.
Es bestimmt aber auch die Primitiven,

bestimmt das Unbewusste, nicht bloß
Formelle an ihnen. Und nur dieses, das
eigentlich Gedankenlose, geht mich an
Kunstwerken etwas an, alles andere spricht
von selbst.

Nun gerade, weil alle die Menschen
nur bildliche Ausdrücke eines und des-
selben Wollens sind, weil alle nur Kleider
mit Köpfen und Händen sind, so scheint
es, als wäre an jedem etwas, woran ihn
der andere nicht kennt, womit er dem
anderen ausweicht. Ein Geist scheint in
ihnen zu leben, dem sie nur schlecht
mit ihrem Ausdruck dienen können, als
wären sie sich selbst fremd und dem
Kleide, das sie tragen, und als wüssten
sie nicht, wozu sie da seien. Ihre Augen
wissen nicht, was ihre Hände thun. Sie
scheinen Fragen zu stellen, auf die ihnen
nichts im Bilde antworten kann. Sie stehen
still, und ihre Augen blicken nach Hori-
zonten, die ihnen der Maler nicht zu
ziehen vermochte; sie gehen umher wie
suchend, und ihr Blick ist starr. Um sie
herum ist alles klar und erklärt, und doch
scheinen sie hilflos, wie Menschen, die
eine fremde Sprache sprechen. Die Worte,
die sie sich zu sagen haben, sind einfach
wie die Texte in ihren Gebetbüchern und
die Lieder, die sie singen, und doch
horchen sie, wie auf etwas, das sie nur
halb verstehen. Ich rede Metaphern, aber
man darf nicht vergessen, dass ich nur
von Bildern spreche. Weil es diesen
Menschen so heiliger Ernst um ihr Leben
ist, erscheint auf ihren Bildern alles
wie ein Spiel; weil sie keine Illusionen
haben, sprechen sie immer in Bildern,
und ihre Worte klingen wie von ferne;
und weil ihnen das Heiligste natürlich
ist, sieht alles Alltägliche um sie wie
ein Wunder aus. Ich will das nicht in
ihren Bildern finden, was in ihrem Leben
nicht war, ich will nur sagen, warum
ihre Gemälde Bilder sind.

Nicht jedes Gemälde ist ein Bild,
die wenigsten Gemälde sind es; das
meiste, was gemalt wird, ist rosa oder
schwarz gefälschte Wirklichkeit. Man
vergisst es immer oder weiß es noch
nicht: ein jedes Bild besteht aus zwei
Dingen: aus dem Dargestellten und dem
Auge, das es sieht; und nur darum ist
es ein Bild. Sonst ist es blind wie Staub

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 311, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0311.html)