Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 314

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens III. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 314

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MAUCLAIR: ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.

lernen würden. Das specifisch Künstlerhafte
hat nichts Unaustilgbares an sich. Eine
Schwäche ist es, daran festzuhalten; denn
es leistet schlechte Dienste und erhöht
nicht. Angebracht wäre es also, wenn
der Künstler, der von den Mittelmäßigen,
solange er keinen Erfolg erzwingen konnte,
verhöhnt und herabgesetzt wird, auf die
wunderliche Hinterlassenschaft des »sensa-
tionellen Kopfes« verzichten und so die
letzten Bande lösen wollte, die dem ironischen
Zuschauer gestatten, ihn noch immer mit
Murgers erbärmlichen Helden zu ver-
wechseln. Hiebei sei festgestellt, dass sich
bereits Dreiviertel der jungen Maler und
Schriftsteller zu dieser neuen Auffassung
bekennen; nur die alten überlebenden
Romantiker beklagen sich darüber. Wir
fühlen alle, dass mit dem exceptionellen
Gebaren und mit den liederlichen Sitten
ein Ende gemacht werden muss. Die
Romantiker freuten sich, von den Bourgeois
begafft zu werden. Der neue Mensch
aber, an Gedanken ebenso reich, wie maß-
voll in seinen Gesten, ist dazu geschaffen,
sein intimes Leben zu verbergen, das
persönlich Auffallende zu hassen, die
Durchschnittsmenschen nur durch überlegte
Kühnheit, durch logische Entwicklung
seiner Gedanken zu verblüffen, dabei aber
sein Gesicht jeder Prüfung unzugänglich
zu machen. Die Gedanken, nicht das
Äußere machen das Individuum aus. Wir
wollen weder die Spitzencravatten d’Auré-
villys, noch Gautiers rothe Weste
tadeln. Wir begrüßen achtungsvoll Des-
boutins beuligen Hut, wir ertragen
Péladans Kapuze und Wamms, denn
alle diese Männer haben schöne Werke
geschaffen; aber sie stehen uns sehr fern!
Es ist, als hätten sie an einen Zunft-
geist der Künstler geglaubt, der eine
besondere Haltung, eine Uniform noth-
wendig macht. Wir fassen heute
unsere Rolle ganz anders auf
; bei
der engen Verbindung der verschiedenen
Classen, Parteien und Stände wird der
Künstler neue Ideen verbreiten, als »vierte
Macht
« in alles eingreifen und alles beein-
flussen. Er wird sich nicht als Ausnahme-
Individuum zeigen, das ein Lächeln hervor-
ruft, sondern als Herrscher, den zu kriti-
sieren nicht möglich ist! Er wird jene letzte
Kinderei aufgeben, die darin besteht, an

einer lockeren Lebensweise, an einem ver-
nachlässigten und absonderlichen Aussehen
festhalten zu wollen. Sehen wir uns die
modernen Schöpfer an! Alle geben uns
ein Beispiel bescheidener Haltung, stolzer,
sauberer Armut, eines arbeitsamen, wohl-
geordneten, gesunden Lebens, der Zurück-
haltung in Gesten und Rede, der Eleganz
und Vornehmheit, die einzig aus dem
Gefühl hervorgehen, eine große Seele
im Innern zu tragen. Welcher »Welt-
mann«, welcher Dandy besaß jemals so-
viel erhabene Leutseligkeit wie Edmond
de Goncourt, soviel lebhaften und
lyrischen Zauber wie Banville, soviel
verführerischen Reiz wie Alphonse Daudet?
Welcher raffinierte Geist erreichte jemals
die mysteriöse Anmuth, die unendlich zarte
Vornehmheit, die Mallarmé in seinem
kleinen Salon oder in seinem Boot von
Valvins zeigte? Welcher Grand-Seigneur
gleicht Whistler? Welcher Gentleman
besitzt mehr höfliche Correctheit als der
Maler La Gandara, der Dichter Henri
de Régnier, der Musiker Vincent d’Indy?
Welcher berühmte Causeur in den aristo-
kratischen Salons wird mit dem Glanze
eines Paul Adam blenden oder mit der
vollendeten Ironie eines Paul Hervieu
plaudern können? Gibt es einen unter
unseren Edelleuten, der es wagen würde,
die königliche und schmerzliche Haltung
Villiers de l’Isle-Adams anzunehmen?
Gab es je eine Persönlichkeit mit höheren
officiellen Alluren als Puvis de Cha-
vannes oder einen von Grund aus ein-
facheren Mann — ich spreche von der
schönen Einfachheit der Seele — als
den armen und großen Ernest Chausson?
Wenn Georges Rodenbach in einem
Salon sprach, wer hätte hoffen dürfen, an
seine lächelnde Vornehmheit und seinen
feinen Reiz heranzureichen? Welcher
Weltmann verfügt über die geistige Un-
gezwungenheit eines Albert Besnard?
Welcher Clubman, der in den reinen
Traditionen der Gentry erzogen wurde,
wollte der lebhaften und ernsten Eleganz
eines Jules Chéret seine Anerkennung
versagen? Welche »gute Gesellschaft«, im
alten Sinne des Wortes, übertrifft in ihren
Manieren einen Roger Marx, einen Pierre
Roche? In Wirklichkeit würde kein vor-
nehmer Kreis diesen Männern in der Kunst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 18, S. 314, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-18_n0314.html)