Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 335

Arthur Rimbaud (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 335

Text

PANIZZA: ARTHUR RIMBAUD.

verlassenen Rimbaud herbei, warf sich ihm
angesichts der drei Bestürzten in die Arme
und verlangte von ihm das heilige Ge-
löbnis unentwegter Freundschaft. Aber nun
war Rimbaud seinerseits zur Ernüch-
terung gelangt. Er weigerte den weiteren
Verkehr und stimmte für die Abreise
Verlaines mit den Damen. Und nun ge-
schah das Unglaubliche. Verlaine zog den
Revolver und schoss auf Rimbaud, den er
am Arm verwundete. Nichts charakteri-
siert die Weiterentwicklung der specifischen
Leidenschaft Verlaines mehr, als gerade
dieser blinde und blutige Act. Aber alles
wäre jetzt noch gut gegangen, wenn
Verlaine sich in das Unvermeidliche ge-
schickt und den Freund freigegeben hätte.
Das geschah nicht. Auf der Rückkehr
vom Hospital, wo Rimbaud sich hatte
verbinden lassen, schoss Verlaine auf den
Freund, der sich neuerdings und ent-
schieden weigerte, ihm für die Zukunft zu
folgen, nochmals auf offener Straße, wieder-
um, ohne ihn schwer zu verwunden; aber
nun war Scandal und Delict öffentlich. Beide
wurden arretiert, Rimbaud ins Spital ge-
schafft und, ehe noch die Heilung der
Wunden zustande gekommen, von der
belgischen Regierung ausgewiesen, Verlaine
vom Brüsseler Gerichtshof trotz der gün-
stigen Aussage Rimbauds zu zwei Jahren
Gefängnis verurtheilt
. Berrichon, dessen
»Vie de Jean Arthur Rimbaud« (Paris 1898)
wir einen großen Theil des hier Mitge-
theilten entnehmen, fügt hier hinzu: »De
méchantes legendes ont fleuri monstrueusement
sur la qualité d’ affection unissant nos deux
poètes, ces poètes dont l’ oeuvre eut une si
saine influence sur les lettres nouvelles. Il
les faut défleurir ces légendes, car l’ arbre
de cette liaison fut chaste et ses rameaux
d’amitié ne produisirent rien au delà d’ une
verdure de norme naturelle
« Wir
können uns dieser Meinung nur an-
schließen. Das Urtheil war von einer
maßlosen Strenge. Schlimmstenfalls han-
delte es sich um Körperverletzung ohne
bleibenden Nachtheil. Dabei hatte Verlaine
im ausgiebigsten Maße die Zubilligung
mildernder Umstände zu erwarten, da er,
von einem hysterischen raptus ergriffen und
in der Furcht, einen Genossen zu verlieren,
der so tiefen und bedeutenden Einfluss auf
ihn genommen und den er sich fürs Leben

gewonnen zu haben glaubte, zweifellos ohne
jene Klarheit des Bewusstseins gehandelt,
die die Juristen »freie Willensentschließung«
nennen. Selbst hier in Paris erhalten junge
Damen, die, in gleicher Situation und den
drohenden Verlust des Geliebten nicht
überwinden zu können glaubend, diesem
letzteren Vitriol ins Gesicht schütten und
schweren körperlichen, bleibenden Nach-
theil zufügen, oft nicht mehr wie einige
Monate Gefängnis. Auch Lepelletier
nennt (im »Écho de Paris«) das Urtheil,
dessen Tenor gieng »pour avoir, à
Bruxelles, le 10 juillet 1873, volontairement
porté des coups et fait des blessures ayant
entraîné une incapacité personelle de travail à
Arthur Rimbaud «, un jugement rigoureux,

und fährt dann fort: Verlaine a été frappé
avec une sévérité exceptionelle par les juges
belges, parce qu’ il était Français, parce qu’ il
était poète, et aussi parce que les notes de police
le donnaient comme ayant participé à la Com-
mune. S’ il y avait eu une cause immorale
à l’ origine du méfait, les bons magistrats
brabançons n’ eussent pas manqué de la
signaler.

Kaum genesen, kehrte Rimbaud nach
Paris zurück. Aber die schlimmen Ge-
rüchte mit all den schwarzen Verdachts-
gründen waren ihm schon vorausgeeilt. Im
Café Tabourey, nahe beim Odéon, wird er,
der einst Gefeierte, selbst vom alternden
Victor Hugo als »Shakespeare enfant« Be-
grüßte, ostentativ »geschnitten«. Er war
noch nicht 19 Jahre alt. Er war eine aus-
gesogene Blüte. Die Wespe, die ihren
Stachel tief in sein Herz gesenkt und ihn
fürs Leben verwundet hatte, saß im Ge-
fängnis. Ihr konnte man, wenn überhaupt
jemand, Schuld beimessen. Aber diesem
naiven Jüngling, der kaum über sich und
seine Umgebung klar geworden! Die
Welt ist oft von einer hirnlosen Grau-
samkeit

Zurückgeschaudert kehrt Rimbaud
schnurstracks in die Heimat zurück. Dort
versucht er noch einmal über das Vor-
gefallene poetisch sich zurechtzufinden.
Er veröffentlicht »Une Saison en enfer«
(Bruxelles 1873), einige kurze, visionär
abgerissene, hingeworfene Skizzen, in denen
er mit großer Kraft den Teufel construiert,
der ihm das glühende Eisen in die Brust
gestoßen hatte.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 19, S. 335, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-19_n0335.html)