Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 355

Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche (Deussen, Paul, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 355

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DEUSSEN: DIE WAHRHEIT ÜBER FRIEDRICH NIETZSCHE.

spräche er die wichtigste Wahrheit aus,
zu sagen, Arthur Schopenhauer ist in
Danzig geboren. Ich erzählte von Spanien,
welches ich im Jahre vorher mit meiner
Frau bereist hatte. »Spanien!«, rief er und
wurde lebhaft, »da war ja auch der
Deussen!« — »Aber ich bin ja der
Deussen«, erwiderte ich. Da sah er mich
starr an und konnte es nicht fassen. Den
Begriff von mir hatte er also noch, und
in der Anschauung erkannte er den Freund,
aber die Kraft, diese Anschauung unter
den zugehörigen Begriff zu subsumieren,
war nicht mehr vorhanden. Seine Inter-
essen wurden wieder die eines Kindes;
einem trommelnden Knaben blickte er lange
nach, und die hin- und herfahrende Loco-
motive erregte seine größte Theilnahme.
Zu Hause saß er meistens in einer son-
nigen, weinlaubumrankten Veranda, in
stilles Brüten versunken, mitunter führte
er Selbstgespräche, oft über Personen und
Verhältnisse von Schulpforta in wirrem
Durcheinander.

Zuletzt sah ich ihn an seinem 50. Ge-
burtstage am 15. October 1894. Ich er-
schien in der Frühe, da ich bald nachher
abreisen musste. Seine Mutter führte ihn
herein, ich wünschte ihm Glück, erzählte
ihm, dass er heute 50 Jahre alt werde,
und überreichte ihm einen Blumenstrauß.
Von alledem verstand er nichts. Nur
die Blumen schienen einen Augenblick
seine Theilnahme zu erregen, dann lagen
auch sie unbeachtet da. 1897 starb
Nietzsches Mutter, und seine Schwester
übernahm von ihr die Pflege des Kranken
als ein theures Vermächtnis. Sie siedelte
mit ihm, wie bekannt, nach Weimar über,
wo er noch bis zum 25. August 1900
im Hause des Nietzsche-Archivs lebte,
umgeben von den Zeugen und Zeugnissen
seines aufkeimenden Ruhmes, ohne eine
Ahnung von demselben zu haben — —

Niemand kann sagen, inwieweit in
diesem hochbegabten Geiste die Keime
der Zerrüttung schon als Anlage vorhanden
waren. Aber hätte Nietzsche sich nicht
geflissentlich von der menschlichen Ge-
sellschaft abgesondert, in der er eine so
ehrenvolle Stellung einnahm, hätte er sein
Amt behalten, eine Familie gegründet und
die Früchte seines Geistes langsam reifen
lassen, anstatt in der Einsamkeit mit

asketischer Überspannung seiner Kräfte
tagsüber unter ermüdenden Wanderungen
seinen Gedanken nachzuhängen und nachts
den fliehenden Schlaf durch immer stärkere
Narkotika zu erzwingen, — wer weiß, ob
er nicht jetzt noch in voller Gesundheit
unter uns lebte und statt des hinterlassenen
Torso uns das vollendete Götterbild einer
excentrischen, aber in hohem Grade der
Beachtung werten Welt-Anschauung ent-
gegenbringen könnte.

Das Lieblingswort Nietzsches, welches
er schon in Pforta immerwährend im
Munde führte, war das Wort »sinnig«.
Sinnig musste alles sein, was ihn an-
sprechen sollte; ein sinniger Mensch zu
sein, das war das Ideal, welches ihm vor-
schwebte. Es bedeutet aber dieses Wort
eine stille, innere Freude an allem, was
schön, wahr und gut ist, ein Ausruhen
und Sichgenügenlassen an den Schätzen
des eigenen Innern, verbunden mit einer
gewissen Abkehr von der Außenwelt, von
ihrem Treiben und von ihrem Urtheile.
Sinnig in diesem Sinne war durch Anlage
und Lebensführung Nietzsche als Mensch,
und dieser Charakter ist auch in seiner
Philosophie zu spüren. Ein systematischer
Philosoph ist er nie gewesen; die großen
Probleme der Erkenntnis-Theorie und Psy-
chologie, der Ästhetik und Ethik weiden
nur im Vorübergehen berührt, wenn auch
durch manches wertvolle auf sie fallende
Streiflicht gleichsam blitzartig beleuchtet.
Eine Durcharbeitung aller Verhältnisse der
Natur und des Lebens, wie wir sie bei
Schopenhauer finden, hat Nietzsche nie
unternommen, und bei der Schwäche seiner
Augen, die ihm beim Studium, wie bei
der Beobachtung von Welt und Menschen
hinderlich war, fühlte er sich von Kind-
heit an hingewiesen auf sein eigenes Innere
und die reichen Schätze, welche es ihm
darbot. Ein heller, lebendiger, unermüdlich
thätiger Intellect ließ ihm nicht leicht eine
Combination entgehen, welche aus dem
beschränkten, ihm zugänglichen Materiale
zu bilden möglich war, und eine duftige,
von gaukelnden Bildern überquellende Phan-
tasie war stets geschäftig, seine Gedanken
in die lieblichsten Gleichnisse zu kleiden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 355, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0355.html)