Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 356

Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche (Deussen, Paul, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 356

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DEUSSEN: DIE WAHRHEIT ÜBER FRIEDRICH NIETZSCHE.

und in einer Sprache von bestechender
Schönheit zum Ausdruck zu bringen.
Aber diesen aus dem reichen Boden des
eigenen Innern emporwuchernden Ge-
danken und Bildern fehlte es an jener
Kritik und Controle durch die Wirklich-
keit, an jener Correctur, welche an den
luftigen Kindern des Geistes durch die
realen Verhältnisse der Natur und des
Lebens vollzogen werden muss. Daher
entfloss der Feder unseres Philosophen
eine Gedankenschöpfung, welche weder
mit sich selbst, noch mit den Verhältnissen
der wirklichen Welt im Einklang steht;
daher laufen in seinen Werken die geist-
vollsten Tiefblicke, die wertvollsten Wahr-
heiten bunt durcheinander mit bizarren,
verdrehten, auf die Spitze gestellten Ein-
fällen, welche, wie es in Sensations-Romanen
zu geschehen pflegt, als Regel hinstellen,
was nur als seltene Ausnahme vorkommt,
und daher ein Zerrbild des Lebens liefern,
das für empfängliche und unerfahrene Ge-
müther eine nicht geringe Gefahr bietet.
Dieser Gefahr werden wir nur entgehen,
wenn wir nachholen, was Nietzsche ver-
säumte, wenn wir seine Gedanken auf
Schritt und Tritt mit der uns wie ihm
vorliegenden Natur der Dinge confrontieren
und alles ausscheiden, was sich an diesem
Prüfstein aller Wahrheit nicht bewährt.
Zwar handelt es sich bei Nietzsche nicht
sowohl um die thatsächlichen Dinge und
Verhältnisse der Natur und des Seelen-
lebens, als vielmehr um die Werte, welche
wir jenen Dingen und Verhältnissen bei-
zulegen gewohnt sind, und die Nietzsche
einer völligen Umwertung glaubt unter-
werfen zu müssen. Fragen wir aber, wo-
her er die Berechtigung zu seiner Um-
wertung aller Werte entnimmt, so können
es im Grunde doch nur die letzten, un-
bewussten, metaphysischen Tiefen unserer
Natur sein, und somit etwas thatsächlich
Gegebenes, welches Nietzsche wie alle
früheren Ethiker bei ihren Wertbestim-
mungen leitete, und die Frage wird nur
sein, ob es Nietzsche gelungen ist, die
Stimme der Natur deutlicher zu ver-
nehmen und ihre Aussagen reinlicher in dem
Sonnenlichte der begrifflichen Erkennt-
nis auszubreiten, als seinen Vorgängern.

Bevor wir aber auf die neuen Ge-
setzestafeln, welche Nietzsche über uns

hängen will, und auf das höchste Ziel,
auf welches sie deuten, d. h. auf den Be-
griff des Übermenschen, näher eingehen,
wollen wir in der Kürze ein Dogma be-
rühren, welches Nietzsche neben dem vom
Übermenschen als den zweiten Cardinal-
punkt seiner Lehre und als ein neues,
großes Mysterium behandelt. Es ist dies
die Lehre von der ewigen Wiederkunft,
nach welcher im Verlaufe der unendlichen
Zeit alle Dinge und Begebenheiten in
periodischem Kreislaufe abermals wieder-
kehren werden, und zwar genau so, wie
sie gegenwärtig sind; und diese Repetition
des ganzen Weltprocesses wird in Zukunft
noch unzähligemale erfolgen, sowie sie
in der Vergangenheit schon unzähligemale
stattgefunden hat, denn die Zeit ist un-
endlich.

Zunächst ist zu bemerken, dass
diese Idee keineswegs neu ist; denn schon
ein alter Pythagoräer erklärte seinen
Schülern, dass der ganze Weltlauf genau
so, wie er jetzt ist, wiederkehren werde;
»dann werde auch ich«, fügte er hinzu,
»wieder so wie jetzt vor euch stehen und
diese Stäbchen hier in meiner Hand halten«.
An diesem alten, durch Nietzsche wieder
erneuten Gedanken ist soviel richtig, dass
die Weltentwicklung einen Kreislauf bildet
und nicht in geradlinigem Fortschritte sich
auf irgendein Endziel zu bewegt, denn
jedes derartige Endziel hätte schon längst
erreicht sein müssen, da die bereits ab-
gelaufene Zeit unendlich ist. Die Ent-
wicklung der Welt geht also im Kreise,
und unsere heutige Naturkenntnis erlaubt
uns sehr wohl, ein hypothetisches Bild von
dem Leben des Universums in der un-
endlichen Zeit zu entwerfen. Ursprünglich,
so dürfen wir annehmen, bildet unsere
Sonne nebst ihren Planeten einen feurigen
Gasball, dessen Mittelpunkt in der heutigen
Sonne und dessen Peripherie noch weit
jenseits der Bahn des Neptun lag. Dieser
Gasball begann zu schrumpfen, zu kreisen,
Ringe abzusetzen, welche rissen, sich zu-
sammenballten und gegenwärtig als Pla-
neten eine Zeitlang den Centralkörper
umkreisen, bis sie, durch irgendeinen
Zufall in ihrem Fluge gehemmt, in die
Sonne hereingezogen werden und, aus un-
geheurer Höhe herabstürzend und tief in
den Sonnenkörper sich einbohrend, eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 356, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0356.html)