Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 357

Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche (Deussen, Paul, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 357

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DEUSSEN: DIE WAHRHEIT ÜBER FRIEDRICH NIETZSCHE.

Reibung und nachfolgende Hitze erzeugen
werden, welche hinreicht, das ganze Sonnen-
system in jenen Gasball zurückzuver-
wandeln, von dem die Entwicklung ihren
Ausgang nahm. Dieser Kreislauf wird
sich unter Modificationen im einzelnen mit
unserem Sonnensystem und — mutatis mu-
tandis
— mit allen Sonnen, die wir als Fix-
sterne im unendlichen Raum erblicken, in
Zukunft noch unzähligemale wiederholen,
sowie er in der Vergangenheit sich schon
unzähligemale abgespielt hat. Soweit
also müssen wir der ewigen Wiederkunft
zustimmen. Wenn aber behauptet wird,
dass die künftige Weltperiode in allen
Einzelheiten genau denselben Verlauf haben
werde, wie die gegenwärtige, so ist dies
eine völlig haltlose Meinung. Im wesent-
lichen wird der Process derselbe bleiben,
aber die Modalitäten werden immer wieder
andere sein; wie auf dem Billard, weil seine
Fläche aus unendlich vielen Punkten be-
steht, nie derselbe Stand der drei Bälle gegen-
einander wiederkehrt, so wird auch das Evo-
lutionsspiel der Welt unendliche Variationen
haben: eadem sed aliter ist, wie das Motto
der Menschengeschichte, so auch das der
allgemeinen Naturgeschichte des Himmels.

Von dieser Nebenfrage gehen wir zur
Hauptsache über, welche darin besteht,
dass Nietzsche mit großer Tapferkeit die
Gesetzestafeln aller bisher giltigen Werte
zerbricht und dafür neue Wertungen auf-
stellen will. Das erstere ist ihm besser
gelungen als das letztere, das Einreißen
besser als das Aufbauen. Mit Ungestüm
wendet er sich gegen die überlieferten
religiösen, christlichen und moralischen
Vorstellungen. Er sieht in ihnen eine un-
würdige Fessel, welche Jahrhunderte lang
die edelsten Kräfte der Menschheit ge-
bunden gehalten und in ihrer freien, natur-
gemäßen Entwicklung gehindert habe.
Wenn hiebei Nietzsche in seiner Be-
kämpfung geheiligter Überlieferungen weiter
geht, als irgendjemand vor ihm, so können
wir ihm dies nur danken. Denn bei allen
derartigen, von Geschlecht zu Geschlecht
sich fortpflanzenden Traditionen ist immer
viel Abgestorbenes, Verknöchertes, Unge-
sundes, und jeder Versuch, den ererbten
Besitz anzutasten, wird zu einer erneuten
Prüfung desselben anregen und muss da-
her willkommen sein.

Schon in Basel 1873 sagte mir Nietzsche,
dass sein Ziel nicht Verneinung des Willens,
sondern Veredlung des Willens sei, und
schon damals erwiderte ich, dass Derjenige
die Verneinung des Willens noch nicht
verstehe, der nicht in ihr die höchste
Veredlung des Willens sehe. Dieses Wort
mag, wie damals meinem Freunde, so
noch heute manchem paradox erscheinen,
und wir wollen versuchen, uns deutlicher
zu erklären.

Welches ist das höchste Ziel des
Menschen? Auf diese Frage gibt jede
Moral-Theorie ihre besondere Antwort; aber
so verschieden diese sein mögen, so werden
sie doch sämmtlich sich in zwei Haupt-
richtungen einordnen lassen, welche wir
kurz als die heidnische und die christliche
bezeichnen können. Die erstere, vertreten
durch die antike Ethik mit Ausnahme des
Platonismus und durch viele Erscheinungen
der neueren Zeit, geht aus von der That-
sache, dass alle Triebe der Menschennatur
zusammenlaufen in dem allgemeinen Ver-
langen, zu leben, zu genießen und glücklich
zu sein, und sie findet die höchste und
letzte Aufgabe der Moral darin, die Mittel
und Wege festzusetzen, welche am sicher-
sten zur Glückseligkeit, sei es in diesem
Leben oder in einem geglaubten Jenseits,
führen. Dieser heidnischen Richtung steht
entgegen die christliche, deren Hauptver-
treter der Vedânta, der Platonismus, das
Christenthum und die Kant-Schopen-
hauer’sche Philosophie sind; sie alle lehren,
dass die höchste Aufgabe des Menschen nicht
in der Verfolgung und Befriedigung jenes
Naturtriebes nach Glückseligkeit liege,
sondern vielmehr in seiner Bekämpfung
und Ausrottung, und dass erst durch eine
solche Verneinung des Willens zum Leben
unsere wahre, überindividuelle, göttliche
Natur aus der Verdunklung hervortrete,
welcher sie durch eben jenen Glückselig-
keitstrieb verfallen sei. Diesen ungeheuren,
gegen die ganze natürliche Weltordnung
sich auflehnenden Gedanken können wir
den christlichen nennen, sofern er der
abendländischen Menschheit zum ersten-
male in der Form des Christenthums ge-
predigt und eingeimpft wurde. Reiner als
in dieser halbmythischen und durch die
heidnische Natur, auf die er gepfropft
wurde, noch mehr verdunkelten Gestalt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 20, S. 357, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-20_n0357.html)