Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 373

Aus den Lehren der Kabbala (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 373

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HARTMANN:AUS DEN LEHREN DER KABBALA.

nütziger Liebe beruhen, im Himmel ihren
Ursprung haben. Die nur äußerlichen und
sinnlichen Neigungen der anima bruta
gehören der niederen Menschennatur an
und unterscheiden sich in nichts von denen
der Thiere.

Für die von Neschamah getrennte
anima bruta ist ebensowenig ein Fort-
schritt nach dem Tode des Körpers mög-
lich, als für einen Menschen, der den Ver-
stand unwiederbringlich verloren hat. Der
abgeschiedenen Persönlichkeit (Ruach)
scheint es allerdings, dass sie fortschreite;
denn sie hat eine — wenn auch unbe-
stimmte — Ahnung davon, dass sie früher
oder später etwas Höheres erreichen werde;
aber darüber, wie dies geschehen wird, ist
sie sich nicht klar; denn der Mensch kann
das Himmlische erst dann richtig erkennen,
wenn er Eins mit ihm und dadurch selber
himmlisch geworden ist. Dasjenige, was
sie in dieser Beziehung erfahren kann,
erlangt sie durch die Wiederspiegelungen
von Seelen-Ausstrahlungen, die aus dem
Reiche des Irdischen kommen; denn hoch-
begabte und fortgeschrittene Menschen
auf der Erde stehen der Astral-Seele bei
und unterstützen sie. Deshalb wird sie
auch zu den Sphären derselben angezogen.

Wenn die anima bruta (Ruach)
etwas gefragt wird, so kann sie nur von
ihrem einen Leben und dessen Erfahrungen
sprechen; denn sie hat nur ein einziges-
mal gelebt. Sie behält ihre Erinnerungen
und Neigungen, die ihr von diesem einen
Leben anhängen. Waren dieselben sehr
stark, so verweilt sie in der Nähe der
Personen, die sie besonders geliebt hat,
und überschattet dieselben.

Eine einzige anima divina (Nescha-
mah), in welcher das wahre Ich des
Menschen ruht, kann, wie bereits oben
bemerkt, viele Personificationen ihres
früheren Selbst im Astral-Lichte, welches
die »Gedächtniskammer der Welt« genannt
werden kann, haben; aber wenn sie voll-
kommen geworden und bereit ist, in die
»Sonne« (das ewige Leben) einzugehen,
so zieht sie alle diese früheren »Ich-

heiten« in sich ein und nimmt deren
Erinnerungen in sich auf, wodurch sie
sich dann an alle ihre früheren Daseins-
formen erinnert, so wie es Gautama
Buddha beschrieben hat. Aber sie nimmt
von allen diesen nur denjenigen Theil der-
selben in sich auf, welcher des Aufnehmens
und der Erinnerung wert ist und ihre
himmlische Ruhe nicht stört. Das wahre
Ich ist die »Sonne«, die Persönlichkeiten
»Planeten«. Während ihres Aufenthaltes
in den »Planeten«, d. h. während ihrer
Incarnationen (Fleischwerdungen) vergisst
sie; aber in der »Sonne« hat sie ihre
Erinnerung. »In memoria aeterna
erit justus
.« Erst dann, wenn ein Mensch
die geistige Wiedergeburt errungen hat
und zum Bewusstsein seines höheren
Daseins im Geiste Gottes gekommen ist,
kann er ein Sohn Gottes sein und die
Erinnerung an seine vergangenen Rollen,
die er auf der Erde gespielt hat, besitzen.
Es kann wohl vorkommen, dass in einem
Menschen, der sich auf dem Wege der
geistigen Wiedergeburt befindet, Erinne-
rungen an vergangene Incarnationen auf-
tauchen, aber dies sind gleichsam Zurück-
strahlungen und sie betreffen in der Regel
keine äußerlichen Ereignisse, sondern viel-
mehr Willensformen, Gesinnungen und
Gewohnheiten, die in dem vorhergehenden
Dasein angenommen wurden. Wenn die
betreffenden Erinnerungen sich auf äußer-
liche Begebenheiten beziehen, so sind sie
in der Regel undeutlich und traumhaft;
denn sie sind Wiederspiegelungen von
Bildern im Astral-Lichte, erzeugt durch die
Überschattung von vorhergehenden Per-
sönlichkeiten durch die anima divina;
denn diese Persönlichkeiten, welche die
verlassenen Tempel von Neschamah
sind, werden von dieser anima divina,
welcher sie zugehören, angezogen und
umlagern sie besonders unter gewissen
Umständen. Von diesen erhält sie durch
die Vermittlung des »Mondes«* die
betreffenden Rückstrahlungen, und dieser
»Mond«, welcher der »Genius« des Menschen
ist, bringt Licht in die Dunkelkammer des

* Der »Mond« ist unsere eigene, höhere, geistige Natur, der »Genius« oder »Schutz-
engel«, der uns durchs Leben begleitet, und durch dessen Vermittlung wir das Licht der Intui-
tion empfangen. Jeder Mensch hat einen solchen »Mond«, der ihn begleitet, ähnlich wie der
sichtbare Mond ein Begleiter der Erde ist. Wenn wir uns in unser Inneres zurückziehen, so
erleuchtet das Licht dieses »Mondes« die verborgene Kammer unseres Gemüthes.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 373, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0373.html)