Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 382

Die Wahrheit des Individualismus II. (Kuhlenbeck, Ludwig, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 382

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KUHLENBECK: DIE WAHRHEIT DES INDIVIDUALISMUS.

Währendes, etwas Beharrliches im
Wechsel, ein ruhender Pol in der Er-
scheinungen Flucht sein.

Alle Einwendungen gegen die Wesen-
haftigkeit unseres Ich entspringen aus dem
zeitlichen Wechsel seiner Erscheinung.
Pas Ich, so sagen die Materialisten nicht
minder wie jene modernen Idealisten, deren
einen wir zu Anfang citierten, ist nichts
anderes, als eine Reihenfolge von Er-
scheinungen, d. h. von inneren Zuständen;
die Erfahrung weist uns kein einziges
beharrliches Element in diesem stetigen
Strome der Zeit und Vergänglichkeit auf.
Wir müssen ihnen Recht geben, wenn die
(sinnliche) Erfahrung die einzige Quelle
der Erkenntnis ist. Aber wenn wir dies
bejahen, müssen wir auch die Hoffnung
aufgeben, irgendeine Wahrheit in unserem
Sinne, irgendein Beharrliches zu finden.
»Τὸ πᾶν ρεῖ, alles fließt, alles ist vergäng-
licher Schein«, wäre der Weltweisheit
letzter Schluss.

Aber die sinnliche Erfahrung selbst wäre
nicht möglich, wenn nicht gewisse Denk-
nothwendigkeiten, die jeden Menschen,
auch den jegliche Metaphysik leugnenden
»Positivisten«, seiner Schul-Theorie zum
Trotz zum unbewussten Metaphysiker
machen, uns eine Wirklichkeit verbürgten,
die jenseits aller sinnlichen Erfahrung
liegt. Diese Denknothwendigkeiten sind
nichts anderes, als die »transcendentalen«
Anschauungen, Begriffe und Grundsätze
Immanuel Kants.

Die Zeit-Anschauung selber setzt ein
beharrliches Wesen voraus. Nur dadurch
nehmen wir das Fließen eines Stromes
wahr, dass wir es messen am feststehen-
den Ufer.

Auch die empirische Psychologie, so-
bald sie nicht bloß beschreiben, sondern
begreifen will, führt uns zur denknoth-
wendigen Annahme eines beharrlichen
Subjectes unserer Vorstellungen und
Empfindungen, welches wir im Gegensatz
zu dem empirischen das transcendentale
Ich oder das transcendentale Subject
nennen wollen. Ungeachtet aller materiellen,
physiologischen Bedingtheit, ungeachtet
aller scheinbaren Unbeständigkeit und
Veränderlichkeit des inhaltlichen (empiri-
schen) Ich muss auch die empirische
Psychologie etwas Beharrliches in uns

voraussetzen, ein geistiges Band, ohne
das die einzelnen Vorstellungen, Gefühle,
Strebungen, die unser empirisches Ich,
unsere Persönlichkeit zusammensetzen, aus-
einander und ins Bodenlose fallen würden.
Der Psychologe Höffding nennt dieses
Band die formale Einheit des Ich.
»In der Einheit,« schreibt er (Psychologie,
S. 281), »welche die verschiedenen Empfin-
dungen und Vorstellungen umfasst und zu-
sammenfasst, und welche deren Wechsel-
wirkung ermöglicht, liegt der Keim des Be-
griffes des Ich oder des Selbst. Dieser Begriff
hat deshalb eine so tiefe Grundlage, wie
irgendein psychologischer Begriff sie haben
kann, da er die eigentliche Grundform und
Grundbedingung des Bewusstseinslebens aus-
drückt«.

Gegen den Skepticismus, der diese
Einheit leugnet und der einen seiner ersten
und bedeutendsten Vertreter in dem Eng-
länder Hume fand, sich wendend, schreibt
derselbe (S. 183):

»Die Natur des Ich legt sich in der Ver-
bindung der Empfindungen, Vorstellungen und
Gefühle und in den Formen und Gesetzen dieser
Verbindung an den Tag, also in Erinnerung
und Vergleichung, in einem Zusammenfassen
und Combinieren des gleichzeitig oder suc-
cessive Gegebenen, von den rein elementaren
Formen dieser Thätigkeiten an bis zu den
höchsten und klarsten Formen, die sie anzu-
nehmen fähig sind. Hume kann vor lauter
Bäumen den Wald nicht sehen
.

Seine Polemik ist der spiritualistischen
Auffassung gegenüber berechtigt, welche »die
Seele« zu einer Einzelsubstanz macht, die
abgesondert hinter den einzelnen Bewusstseins-
Elementen läge. Er versündigt sich aber an
der eigentlichen psychologischen Erfahrung,
wenn er spöttisch erklärt, mit Ausnahme einiger
weniger Metaphysiker besteht das übrige
menschliche Geschlecht nur aus Bündeln
oder Sammlungen von Empfindungen (per-
ceptions), die mit unfasslicher Geschwindigkeit
auf einander folgten und in steter Strömung
wären. Er übersieht das innere Band zwischen
diesen Bewusstseins-Elementen, wodurch sie
eben Elemente eines und desselben Bewusst-
seins und nicht mehrere Bewusstsein werden.
Und dennoch müsste er natürlich zu der Frage
bewogen werden, was die Bewusstseins-
Elemente zusammenhalte und ein »Bündel«
aus ihnen mache. Hier muss es doch eine
vereinende Kraft geben
!« ( Höffding ,
ebenda, S. 183.)

Noch treffender aber sagt Lotze
(Mikrokosmos, L, S. 175):

»Nicht darauf beruht unser Glaube an die
Einheit der Seele, dass wir uns als solche
Einheit
erscheinen, sondern darauf, dass wir
uns überhaupt erscheinen können. Wäre der
Inhalt dessen, als was wir uns erscheinen, ein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 382, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-22_n0382.html)