Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 384

Die Wahrheit des Individualismus II. (Kuhlenbeck, Ludwig, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 384

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KUHLENBECK: DIE WAHRHEIT DES INDIVIDUALISMUS.

Wirkung sei und dass es keine letzten
Ursachen gebe. Wenn nicht die Möglich-
keit der Wahrheit selber preisgegeben
werden soll — der Skeptiker aber, der
dies thut, verzichtet eben damit auf die
Fähigkeit, uns zu widerlegen — wenn
nicht der Widerspruch einer in jedem
gegenwärtigen Zeitpunkt sich vollendenden
Unendlichkeit uns schwindlig machen
soll, so muss es mindestens eine letzte
— oder was mit zeitlicher Umkehr das-
selbe bedeutet — erste Ursache geben.
Und wir haben nicht nur keinen Grund,
diese erste Ursache außer uns zu
suchen, sondern sind sogar gezwungen,
sie in uns zu setzen. Denn jede Ursache
bleibt ihrer Wirkung immanent. Die
Wirkung ist nichts von der Ursache Ab-
gelöstes, sondern nur eine Entwicklung
der Ursache. Diese Immanenz des Ursach-
lichen in der Wirkung verkennt aber der
dogmatische Materialismus, wenn er die
auch von ihm empirisch nicht zu leugnende
Einheit des Bewusstseins als eine bloße
Resultante verschiedener, außerhalb
des Bewusstsein selber existierender Einzel-
kräfte (im Plural) deutet. Bei aller Ver-
achtung des sogenannten Transcenden-
talen merkt er nicht, dass er selber mit
dieser Deutung des einheitlichen Brenn-
punktes die sonderbarste Transcendenz,
die Transcendenz der Ursache gegenüber
der Wirkung, behauptet.

Die Annahme des Materialismus, dass
eine nicht bloß einheitlich erscheinende,
sondern wesentlich einheitliche Thätig-
keit, wie das Bewusstsein, eine bloße
Resultante der combinierten Thätigkeit
verschiedener Subjecte, ungezählter
(transcendenter) Atome (Kraftsubjecte)
sein könne, ist widersinnig. Nur der
Schein einer Einheit könnte auf Grund
combinierter Thätigkeiten verschiedener
Subjecte entstehen, und selbst dieser
wiederum nur in einem selber schon ein-
heitlichen Subjecte; denn letzterer selber
ist es ja erst, der combiniert (verein-
heitlicht).

Unwiderlegbar scheint mir in dieser
Richtung, was Lotze schreibt (Mikro-
kosmos, I, S. 176):

»Die Zusammensetzung vieler räumlicher
Bewegungen zu einer gemeinsamen Resul-
tante ist immer das Vorbild gewesen, auf

welches diese (materialistischen) Versuche
mehr oder minder unmittelbar die Hoffnung
ihres Gelingens stützten. So wie hier zwei
Bewegungen von verschiedener Richtung und
Geschwindigkeit sich zu einer dritten, völlig
einfachen vereinigen, in der keine Erinne-
rung mehr an den Unterschied ihrer beiden
Ursprünge enthalten sei, ebenso werde aus der
Mannigfaltigkeit geistiger Elementar-Bewegun-
gen, die in den verschiedenen Bestandteilen
des lebendigen Körpers vorgehen, die Einheit
des Bewusstseins als resultierende
Bewegung entspringen
. Aber die Über-
redungskraft dieser Analogie beruht auf einer Un-
genauigkeit ihres Ausdruckes und verschwindet
gänzlich, wenn diese beseitigt wird. Denn nicht
von zwei Bewegungen schlechthin spricht jener
unzweifelhafte Lehrsatz der physischen Me-
chanik, sondern nur von zwei Bewegungen,
deren Ausführung von irgendwelchen Kräften
einem und demselben untheilbaren
Massenpunkte
in einem und demselben
Augenblicke zugemuthet wird. Die einfache
Giltigkeit des Satzes hört sogleich auf und
weicht einer verwickelteren Berechnung des
herauskommenden Erfolges, sobald wir an die
Stelle jenes untheilbaren Punktes ein wie auch
immer fest verbundenes System vieler Massen
setzen, und die verschiedenen Bewegungen
auf verschiedene Punkte dieser vereinigten
Vielheit wirken lassen. Und die einfache
Resultante selbst, die in dem ersten günstigeren
Falle entsteht, ist ebensowenig eine Bewegung
schlechthin, deren Richtung und Geschwindig-
keit zwar gesetzlich bestimmt wäre, während
die Masse unbestimmt bliebe, von der sie aus-
geführt wird; sie ist natürlich nur als eine
Bewegung desselben untheilbaren Punktes zu
denken, auf welchen die gleichzeitiger, ver-
schiedenen Bewegungs-Antriebe einwirken. Er-
gänzt man diese wenigen Nebengedanken, die
in der Grundlegung der Mechanik nie ver-
gessen und nur in den kurzen Berufungen auf
dies Grundgesetz nicht weitläufig wiederholt
werden, so übersieht man mit einem Blicke
die Hoffnungslosigkeit jedes Versuches, die
Ableitung des einen Bewusstseins aus der
Wechselwirkung vieler Theile durch die Glaub-
würdigkeit des unbestrittenen mechanischen
Theorems zu empfehlen; denn eben diesen
wesentlichen Bestandteil des Theorems pflegt
jene Ableitung zu vernachlässigen; sie spricht
gern von dem Zusammengehen der verschie-
denen Zustände, die in verschiedenen Elementen
stattfinden, aber sie macht jenes untheil-
bare Subject nicht namhaft, in welches
sie einmünden
, durch dessen Einheit
sie überhaupt zur Erzeugung einer
Resultante genöthigt werden und an
welchem endlich
, als sein Zustand,
diese Resultante eine begreifliche
Wirklichkeit allein erst haben könnte
.
Wie ein neues, aus nichts entstandenes Wesen
schwebt über den Wechselwirkungen der
vielen Elemente in haltloser Selbständigkeit
dieses Bewusstsein, ein Bewusstsein ohne
jemand, dessen Bewusstsein es wäre.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 384, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-22_n0384.html)