Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 391

Der vierte internationale Psychologen-Congress (Deinhard, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 391

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DEINHARD: DER VIERTE INTERNATIONALE PSYCHOLOGEN-CONGRESS.

die Idee der Palingenesie, in der sie
bekanntlich beinahe ausnahmslos weiter
nichts erblicken, als einen im Osten seit
Jahrtausenden festgewurzelten Aberglauben,
in ganz anderer Weise plausibel machen
müsste, als dies Mr. Chatterji zu thun im-
stande ist, wenn man nämlich mit Aus-
sicht auf Verstanden-werden darüber reden
will. Die Mehrzahl der Anwesenden schenkte
deshalb auch den Ausführungen des Inders
wenig Aufmerksamkeit, obwohl dieser, wie
er dies gewohnt ist, mit viel Pathos
sprach.

Auch die dritte allgemeine Sitzung
bot eine Fülle interessanter Eindrücke.
Dieselbe begann mit einer Rede des be-
kannten Warschauer Psychologen Prof.
Ochorowicz, in der dieser die Aufmerk-
samkeit des Congresses auf ein in Paris
zu gründendes internationales »Institut
psychique« lenkte, zu dessen Errichtung
durch großartige Spendungen russischer
Crösusse der Boden vorbereitet worden sei.
Diese durch ein zur Vertheilung gelangtes
Bulletin dem Congress bereits bekannt-
gegebene Idee fand zunächst eine etwas
kühle Aufnahme. Man erklärte die Sache
noch für sehr unreif und bemängelte den Aus-
druck »psychique« statt »psychologique«.
Als sogar ein russischer Gelehrter die Idee
als Chimäre bezeichnete, trat Prof. Richet,
der selbst dem Gründungs-Comité ange-
hört, dieser Auffassung mit großer Ent-
schiedenheit entgegen, indem er hervorhob,
die Psychologie nehme heute officiell noch
immer nicht den Rang ein, der ihr eigent-
lich gebüre, und diesen werde sie erst dann
erringen, wenn durch eine solche Central-
stelle die positive wie die anormale oder
occulte Psychologie gefördert und kräftig
unterstützt würde.

Es schloss sich hieran ein äußerst
geschickter Vortrag des Professors der
physiologischen Psychologie an der Genfer
Universität Dr. Th. Flournoy über seine
Beobachtungen im Spiritismus. »Was ist
denn eigentlich Spiritismus? — so hub er an
— »Dies ist eine Frage, die mir immer und
immer wieder gestellt wird«. Und nun schil-
derte er in humoristischer Weise die verblüf-
fenden Resultate seiner langjährigen Beob-
achtungen und Erfahrungen mit einem
Genfer Medium, wie er sie in seinem
kürzlich bei Félix Alcan in Paris heraus-

gekommenen Werke: »Des Indes à la
planète Mars« ausführlich dargestellt hat.
Er ist kein Anhänger der Spirit-Hypothese,
aber ein vorurteilsfreier Forscher, der in
diesen Dingen den Grundsatz vertritt:
»Tout est possible«.

Es folgte eine kurze Mittheilung von
Mr. F. W. H. Myers M. A., des lang-
jährigen Secretärs und gegenwärtigen
Präsidenten der englischen »Society for
psychical research«. Myers sprach über den
von ihm beobachteten »Tranze-Zustand«
eines anwesenden Congress-Mitgliedes, der
Mrs. Thompson aus London, und erklärte
im Gegensatz zu seinem Vorredner, dass
man nach seinen Beobachtungen häufig
die Zuhilfenahme der Spirit-Hypothese
nicht umgehen könne, eine Hypothese,
die, wie er betonte, allerdings erst dann
herangezogen werden dürfe, wenn alle
anderen, wie Suggestion, Telepathie,
Clairvoyance u. s. w., sich als gänzlich
unanwendbar erwiesen hätten. Nachdem
noch von anderer Seite über die merk-
würdigen Fähigkeiten dieser Mrs. Thomp-
son berichtet worden war, erklärte sich
Prof. Richet bezüglich dieses noch so un-
bekannten Forschungsgebietes gegen die
Aufstellung von Hypothesen überhaupt.
Unsere Kenntnisse seien hier vorläufig
noch in einem solchen Anfangstadium,
dass wir uns darauf beschränken müssten,
nur zu beobachten und zu experimentieren.
Prof. Richet ist demnach weit entfernt
davon, ein principieller Gegner dieser
Forschungsrichtung zu sein, wie so viele
Vertreter der positiven Psychologie.

Zum Schluss dieser Sitzung trat wieder
der oben genannte Inder Chatterji auf,
um über die beim Studium der Experimental-
Psychologie in seiner Heimat befolgte
Methode zu reden, einer Schule der mentalen
Selbst-Controlierung, mit der ja der Kenner
der theosophischen Literatur soweit vertraut
zu sein pflegt, dass er sie theoretisch erfasst
hat, wenn er sich auch mit ihrer praktischen
Anwendung meistenteils nicht abgibt.

In der vierten, fünften und
sechsten allgemeinen Sitzung

wurden Vorträge gehalten, die sich zum
Unterschied von den in den drei ersten
Sitzungen abgehandelten Thematen ganz
ausschließlich in den Grenzen der soge-
nannten exacten positiven Psychologie be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 391, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-22_n0391.html)