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lichkeit.« Oder diese beiden anderen:
»Die Summe des allgemeinen Genusses
erhöhen, ist Tugend« und »Genuss ist
Tugend«. Es ist ganz das Sonnen-
Evangelium Zarathustra-Nietzsches. —
Und mit all seinen Schwächen (sie waren
wohl keine anderen als die jenes unbe-
schränkten und nicht zu enttäuschenden
Dranges zum Wohlthun) und mit seinen
Tugenden war er eine überaus wahrhafte
Natur. So scheute er sich zum Beispiel
auch nie, seine Charaktervorzüge offen
und ausführlich darzuthun; mit diesem echt
modernen Hang zur Reflexion über sich selbst,
der wohl der vornehmlichste Grundfactor der
Evolution und Differenzierung der mensch-
lichen Psyche in unseren modernen Zeiten
ist, reichlich ausgestattet; eng verbunden
dennoch dieser Hang mit einer köstlichen
Naivität, die ihm bei Multatuli alles Krank-
hafte und Problematische nimmt, womit
er in diesen Zeiten so viele reiche Be-
gabungen untergräbt und zugrunderichtet.
Und Multatuli darf seine Vorzüge offen
aussprechen, denn durch alle stets
documentarisch zu controlierenden That-
sachen seines reichbewegten Lebens wird
dieses Selbstlob reich und wunderbar be-
stätigt
Alles dies sind Eigenschaften, die
Multatuli weit hinaus über die secundäre
Bedeutung und die Einseitigkeit sonstiger
Kämpfernaturen, deren Wert mit den je-
weiligen Zeitströmungen, die sie befehden,
steht und fällt, auf die Höhe der genialen
Persönlichkeit erheben. Ganz ist er selbst-
eigene Persönlichkeit: Träumer, Phantast,
»Prinz aus Genieland«, weltfremd und
über den Menschen wie ein vom Himmel
herabgestiegener Cherub, Kinderherz; und
zugleich doch Mann, Kämpfer, active, ja
im hohen Maße praktische Natur; ein
Mann, der in die Welt passt; einen
wundersamen Parallelismus aufweisend
seelischer Eigenschaften, wie wir ihn nur
bei den Großen und Größten, wie wir
ihn wahrnehmen und bewundern bei einem
Shakespeare und einem Goethe. »Ver-
rückt« wohl gar, wie die Welt und das
Gros der Philisterherde sagt, über alle
Maßen gewohnter sittlicher und socialer
Convention, und doch gerade kraft solcher
Eigenschaften ein Schöpfer, ein mächtiger,
gestaltender Kämpferwille, ein reicher,
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scharfer und logischer Verstand; ganz ein
Eigener; seelisch fein differenziert und
sensibel, Verkünder eines neuen großen
Evangeliums der Liebe und Freude,
Bürger einer kommenden, erhofften Über-
menschen-Generation, eines neuen, Ge-
schlechtes vollendeter Männer, wie es in
diesen Zeitläuften des Überganges zu neuen,
festen sittlichen Werten nur sehr wenige
sind: so tritt Multatuli heute in die Welt-
literatur ein und gesellt sich zu den
freiesten und vornehmsten Geistern, die
Europa bewundert und deren Worten es
lauscht. Wahrhaftigkeit und rückhaltlose
persönliche Confession: dies waren seine
schönsten und vornehmsten Tugenden.
Mit ihnen ist er, über den Regeln und
der Convention auch jeglicher »Kunst«,
ein großer Künstler und Dichter.
Man ist in rechtschaffener Verlegenheit,
wie man seinen »Max Havelaar« ästhetisch
rubricieren soll. Er sagt selbst von dem Buche:
»Man wird sagen: ‚Das Buch ist bunt — es ist
kein Ebenmaß darin — Jagd nach Effect —
der Stil ist schlecht — der Autor ist ungeschickt
— kein Talent — keine Methode‘ — gut gut, alles
gut! Aber: der Javane wird misshandelt!«
Vom dritten bis zum sechsten dieser Vorwürfe
stimmt’s nicht; die übrigen indessen mögen
alles bezeichnen, was sich zur Noth dem Werke
ästhetisch zum Vorwurf erheben ließe. Roman
wird man es nur zum Theil nennen können;
zum anderen Theil ist es Selbstbiographie,
Memoirenwerk, Culturschilderung aus dem hol-
ländischen Colonial-Leben jener Zeit, Streit-
schrift, flammender Protest gegen jedwede Ver-
gewaltigung etc. etc. alles; also kaum irgendwie
ästhetisch recht unterzubringen. Indessen:
jede Zeile des Buches ist mit einem warmen,
männlichen, muthigen und wahrheitsliebenden
Herzen geschrieben — »der Javane wird miss-
handelt!« übrigens erkennen wir in der
vorzüglichen Charakteristik, in ihrem nieder-
ländischen Humor, in ihrer psychologischen
Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, in der
glänzenden Sprache, in der Pracht der Farben,
in dem bestrickenden lyrischen Schwung die
vornehmsten Eigenschaften des Künstlers.
Gestalten, wie der Kaffeemakler Batavus Drog-
stoppel und der Pfarrer Wawelaar, die Tine,
die Colonialbeamten, das Bild des Max Have-
laar — Selbstporträt — sind ersten Ranges;
die eingeschobene javanische Liebesgeschichte
von Saidjah und Adinda mit ihrer großen,
schlichten und ergreifenden Tragik und ihren
bestrickenden Liebesliedern im malayischen
Ton — das schönste darunter: Saidjahs Im-
provisation »Ich weiß nicht, wo ich sterben
soll« — das alles sind Eigenschaften von
höchstem künstlerischen Wert. Der Humor
des Buches, namentlich in den Amsterdamer
Partien, seine Satire, der jede Verbissenheit
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