Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 424

Das Licht und die Inscenierung (Appia, Adolphe)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 424

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APPIA: DAS LICHT UND DIE INSCENIERUNG.

ein Handwerk, noch einen architektonischen
Stil, noch eine besondere Pflanzenart aus;
dies alles gehört jenem Theil des Dramas
an, der sich an unseren Verstand wendet;
es ist gewissermaßen die äußere Er-
scheinung;* und diese darf uns nur inso-
fern auf der Bühne vorgeführt werden,
als es für das lückenlose Verständnis des
poetischen Textes unerlässlich ist. Eine
bloße Andeutung genügt beim scenischen
Bilde, um uns über die zufällige Be-
schaffenheit der sichtbaren Umgebung der
Handlung aufzuklären; ist das geschehen,
so bleibt der Inscenierung die eine einzige
Aufgabe: in dem Rahmen der vom Dichter
bestimmten Umgebung dasjenige zum Aus-
druck zu bringen, was dem von der Musik
geoffenbarten innersten Wesen der Dinge
entspricht, mit anderen Worten: das Ewige
in den flüchtigen Bildern des Augen-
blicks. — Was aber verleiht dem täglich
vor unserem Blicke sich entfaltenden Bilde
jene großartige Einheitlichkeit, welche be-
wirkt, dass wir durch das Auge leben?
Das Licht! Ohne diese, die Einheit
schaffende Macht würden unsere Augen
wohl die »Bedeutung« der Dinge erfassen
können, nie aber ihren »Ausdruck«; denn
damit Ausdruck empfunden werde, bedarf
es der Gestalt, und ohne die Betheiligung
activer Beleuchtung kann ein Körper nur
durch Betastung Gestalt (und somit auch
Ausdruck) gewinnen; für das Auge bleibt
er ungestaltet.**

Was in der Partitur die Musik, das
ist im Reiche der Darstellung das Licht:
das Ausdruck-Element im Gegensatz zum
Elemente des andeutend orientierenden
Zeichens. Das Licht kann, gleich
der Musik, nur das ausdrücken
,
was dem »inneren Wesen aller
Erscheinung
« angehört. Wenn
auch die Verhältnisse beider Elemente
sich im Wort-Tondrama nicht immer
parallel gestalten, so ist doch ihre Existenz
in diesem Kunstwerk eine sehr gleich-
artige. Vor allem bedürfen beide gleicher-
maßen eines Objectes, d. h. einer zufälligen
äußeren Erscheinung, an welcher ihre
Gestaltungskraft sich zu bethätigen ver-

mag. Der Musik schafft der Dichter dies
Object; dem Lichte — mittels der Auf-
stellung — der Darsteller. Auch ist beiden
Elementen jene überaus lenksame, weiche
Flüssigkeit zu eigen, durch welche sie
imstande sind, alle Ausdrucksgrade, vom
bloßen Vorhandensein bis zur überströmend-
sten Intensität, zu durcheilen.

Aber noch weit mehr als dies! Zwischen
Musik und Licht besteht ein geheimnis-
voller Zusammenhang, wie es H. S. Cham-
berlain (»Richard Wagner« I. Ausg., S. 196)
so schon ausspricht: »Apollo war nicht
Gott des Gesanges allein, sondern auch
des Lichtes«. Und wenn ein glücklicher
Zufall uns beide göttlichen Attribute gleich-
zeitig in der Gemeinsamkeit zeigt, die
ihnen jener Gott gewährt, so empfinden wir
die ganze Tiefe ihrer Zusammengehörig-
keit. Die Herrschernatur ihres Ausdruckes
zwingt sich uns auf, gleich einem unzurück-
weisbaren Axiom; wie ein solches scheint
sie keiner Beweisführung zu bedürfen.

Indessen muss in Betracht gezogen
werden, dass die Empfindungsfähigkeit
des Ohres und des Auges nicht bei jeder-
mann gleichmäßig entwickelt sind. Es kann
sehr leicht sein, dass dem Einen eine
große Ausdrucksfähigkeit der Darstellung
da Bedürfnis ist, wo Anderen die gleiche
Musik auch nicht annähernd das gleiche
Verlangen wachruft. Wie ich aber be-
reits bei Besprechung der »Scenischen
Täuschung« feststellte, braucht der Wort-
Tondichter sich um jene Verschiedenheit
des Geschmacks und der Wünsche seines
Publicums nicht zu kümmern; er erweckt
eine Erscheinungswelt, die von den indi-
viduellen Aufnahmsfähigkeiten des Ein-
zelnen gänzlich unabhängig ist. Dem
Publicum gegenüber ist die Harmonie
seines Werkes eine unbedingte: nicht
durch ein willkürliches Nebeneinander von
Partitur und Darstellung wird sie erreicht,
sondern durch die gleichmäßig beständige
Parallelbewegung zwischen den dichterisch-
musikalischen und den darstellerischen
Modulationen. Und diese Beständigkeit
des Verhältnisses lag schon in jenem
Keim verborgen, welchen die Phantasie

* Die empirische Gestalt, das Phänomen.

** Unter Licht wird natürlich hier und überall nicht die bloße Thatsache verstanden,
dass man sehen kann, das heißt also nicht lediglich die Negation der Finsternis, die »Hellig-
keit«, sondern actives, gestaltendes Licht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 424, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0424.html)